Die interessanteste Frage, die mir nach einem Klosteraufenthalt gestellt wurde, war: «Und? Hast du zu dir selber gefunden?» Diese Frage hat mich erstmal sprachlos gemacht. Ich war auf viele Fragen vorbereitet, aber auf diese nicht. Wenn man sich mit der buddhistischen Philosophie auseinandersetzt, ist es genau dieses «Selbst», mit dem man sich anlegt und welches nicht so existiert, wie wir das meinen. Das ist für uns natürlich erstmal befremdlich:
Wir können aus unserer eigenen Erfahrung sehen, dass unsere Existenz von der Wechselwirkung zwischen unserem Körper und Geist abhängt. Aber wenn wir beide getrennt untersuchen und sie in ihre Bestandteile zerlegen, finden wir nichts, was wir das Selbst nennen können.
Geshe Rabten, Die Natur des Geistes
Das «Selbst» lässt sich also nicht so einfach festlegen. Die meisten lokalisieren es in unserem Kopf. Logisch, da laufen alle unsere Sinne zusammen. Aber ist es wirklich in unserem Kopf? Man versetze sich geistig einfach mal in die Situation der letzten Grippe mit hohem Fieber zurück. Wo war dieses «Selbst», das sonst täglich selbstbewusst auftritt? Ein paar Grad mehr und es ist hinweggefegt. Es braucht sehr wenig und wir sind nicht mehr wir selbst. Geschweige denn in Ausnahmesituationen wie Krieg oder ähnlichen traumatischen Ereignissen – da ist niemand mehr sich selbst.
Die buddhistische Philosophie spricht hier von der Leerheit. Eine der Bedeutungen der Leerheit ist: Leer von einer unabhängigen Existenz. Also kein unabhängiges «Ich», sondern eins, das vielfältigen Einflüssen unterliegt. Eins, das aus mehreren Aggregaten zusammengesetzt ist.
Auch David Hume, der als heimlicher Buddhist gehandelt wird, erkannte kein «Ich». Er beschrieb unsere Wahrnehmung von uns selbst nur als das Resultat eines Stroms von Wahrnehmungen (Perzeptionen). Und die sind in stetigem Fluss. Das unterstreicht also die Leerheit von unabhängiger Existenz. Mit einem schnippischen Seitenhieb meinte er:
Wenn ich aber von einigen Metaphysikern, die sich eines solchen Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, daß sie nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind.
David Hume, Traktat der menschlichen Natur, Kap. 6
Dieses «Ich» ist für die meisten unserer Probleme verantwortlich. Wer das nicht glaubt, der werfe einfach mal einen Blick auf unsere Welt. Man hat das Gefühl, dass der Mensch mit seinem zügellosen Konsum unersättlich ist. Und je mehr er schon hat, desto gieriger wird er. Er will noch mehr.
Und genau das bringt uns wieder zu Schopenhauers blindem Willen und seinem principium individuationis (Prinzip der Individualisierung):
Da die allgemeine Vernunft bald einsieht, daß der größte Theil der Leiden daraus erwächst, daß der Wille zum Leben durch das principium individuationis in einer Pluralität von Individuen erscheint, in deren jedem der Wille sich ganz individuell zeigt, und daher das Wohl dieses Individuums ohne Rücksicht auf das Leiden Andrer sucht, indem der Wille sich hier nur in diesem Individuo erkennt und in den andern nicht.
Arthur Schopenhauer, Handschriftlicher Nachlass 1
Abgekürzt zusammengefasst: Wir sind Egoisten, weil wir uns selbst als Individuum erkennen. Und wir können uns selbst nur in Raum und Zeit erkennen. Raum und Zeit sind die zwei zwingenden Voraussetzungen für unsere Erkenntnis:
Demnach läge es nur an diesen Formen unserer Erkenntniß, Raum und Zeit, diesem principio individuationis daß uns die Vielheit der Individuen erscheint, bei der Einheit der Gattung, und denken wir uns die Erkenntniß von diesen Formen entledigt, so wäre auch jene Vielheit verschwunden und das Viele erschiene als Eins: wir hätten folglich nur noch Gattugen, nicht mehr Individuen .
Arthur Schopenhauer, Philosophische Vorlesungen I
Lassen wir mal die Physik weg und schauen das rein aus der Sicht unserer Erkenntnis an: Fehlt die Zeit, findet keine Erkenntnis statt, da ja quasi Stillstand herrscht. Unsere Erkenntnis ist eine Abfolge von Wahrnehmungen und ohne diese Abfolge sind wir quasi auf Standby. Fehlt der Raum, könnte auch nichts wahrgenommen werden, da es keine Ausdehnung gibt, in der Veränderungen unserer Umgebung bemerkbar wären.
Und wenn man dann noch die Physik dazunimmt, dann wären das Zustände wie in einem schwarzen Loch. Auch da ist die Materie auf kleinstem Raum komprimiert. Und wenn ich Stephen W. Hawking richtig verstanden habe, würde in einem schwarzen Loch auch mehr oder weniger die Zeit stillstehen. Da gelten ganz andere Naturgesetze. Die fressen Planeten am Laufmeter und komprimieren diese auf weniger als Stecknadelgrösse. In schwarzen Löchern überlebt nichts, nicht mal die Atome.
Aber was ist mit der Materie? Ausser dem Raum und der Zeit braucht es die doch auch, sonst würde es uns doch gar nicht geben. Klar, die dürfen wir nicht vergessen. Die braucht es natürlich auch, damit wir überhaupt «da» sind. Aber eben, wie oben hergeleitet, ohne Raum und Zeit gibts uns schlichtweg in dieser Form nicht. Daher der Name dieses Blogs.
Es ist doch schon bemerkenswert, dass Philosophen schon lange vor modernen Physikern erkannt haben, dass Raum und Zeit zusammenhängen und das Urprinzip für unsere Existenz und die Erkenntnis sind.
Und übrigens, mein unabhängiges "Selbst" habe ich bis jetzt nicht gefunden.
_____________________
Arthur Schopenhauer, Philosophische Vorlesungen 1