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Die Nervensäge

Sokrates
Sokrates

Wikimedia (Creative Common)

 

Er war definitiv der erste NLP-Master, den es gegeben hat. Aber im Pacing vermutlich nicht. Pacing ist die Technik, den Zustand des Gegenübers zu spiegeln, um Vertrauen zu schaffen. Darin war Sokrates wahrscheinlich nicht so gut, weil er allen auf den Keks gegangen ist. Niemand war auf dem Marktplatz vor ihm sicher. Nicht mal die Handwerker in ihren Werkstätten hatten Ruhe vor ihm. Ich bin überzeugt, dass, wenn er die Strasse entlangkam, die Leute in alle Himmelsrichtungen verstoben sind. Alle hatten gerade etwas Wichtiges zu erledigen.

Sokrates war aber sicher ein Meister im Leading. Leading ist die neuro-linguistische Gesprächstechnik, um jemanden subtil dahin zu führen, wo man ihn haben will. Es ist eben kein richtiger Dialog mehr, sondern ein Monolog mit einem bestimmten Ziel. Das ist genau diese Gesprächstechnik, die man NIE in einer Beziehung oder einer Freundschaft verwenden sollte. Sie hat definitiv einen manipulativen Charakter. Und wenn das Gegenüber diese Manipulation bemerkt, ist ein Vertrauensverlust unumgänglich. Niemand lässt sich gern von einer Vertrauensperson manipulieren.

Fast das Einzige, was ich langfristig aus einem NLP-Kurs mitgenommen habe, ist, diese manipulativen Methoden zu erkennen, und wenn ich die bemerke, klarzustellen, dass ich die nicht dulde. Und sie eben nicht anzuwenden, sondern Klartext zu reden, damit mein Gegenüber immer weiss, woran es ist.

Und genau darum kann ich keinen von Sokrates’ Dialogen, sorry, Monologen, die Platon geschrieben hat, lesen. Und das, obwohl es definitiv gute Überlegungen drin hat. Auch nach dreimaligem Anlauf konnte ich Platons Von der Unsterblichkeit der Seele nicht fertig lesen. Dieses Buch besteht aus endlosen Monologen von Sokrates. Da komme ich relativ schnell an den Punkt, an dem ich denke: «Sag mir einfach endlich ohne Umschweife klar und deutlich, worauf du hinauswillst. Und versuche nicht, durch endlose verkettete Fragerei eine Zustimmung für etwas von mir zu erschwindeln, auf das du von Anfang an aus warst.» Nach der zehnten Frage in den Dialogen weiss man sowieso nicht mehr, wieso man eigentlich da gelandet ist, wo man jetzt ist. Sokrates ist für mich daher die manipulativste Nervensäge, die ich «kenne». Vielleicht tu ich ihm auch unrecht und nur Platon hat ihn zu dieser gemacht. Was weiss man schon nach 2500 Jahren?

Sokrates hat übrigens nicht gesagt: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Das kommt aus dem Volksmund und nicht von Sokrates. Das hatte ich lange falsch im Kopf. «Ich weiss, dass ich nicht weiss», soll er im übertragenen Sinn gesagt haben. So zumindest wird die stark verkürzte Ausführung aus Platons Text Apologie des Sokrates landläufig wiedergegeben. Was definitiv eine andere Bedeutung gibt. Eben nicht, dass man nichts weiss, sondern dass man sich immer überlegen muss, worauf unser vermeintliches Wissen beruht. Darum hatte Sokrates schon seine Berechtigung. Es ist ein grundlegender Bestandteil der Philosophie, Theorien zu hinterfragen. Man kann sich sonst ja nie sicher sein, was man überhaupt meint zu wissen. Das ist sicher mit ein Verdienst Sokrates’. Eine Nervensäge war er trotzdem.

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Ein von mir frei erfundener «sokratischer» Dialog mit zwei Figuren aus dem Roman Moby Dick: 

Ismael, der Seemann, und Starbuck, der Steuermann, diskutieren in der Kombüse der Pequod.

Starbuck: «Sokrates war einer der grössten Philosophen, den es je gegeben hat. Da gibt es keine Diskussion.»

Ismael: «Sokrates hat doch keine Zeile selber aufgeschrieben. Stimmst du mir zu?»

Starbuck: «Ja, das ist so.»

Ismael: «Wir haben also keine schriftliche Hinterlassenschaft von ihm selbst. Stimmst du mir zu?»

Starbuck: «Ja, da stimme ich dir zu.»

Ismael: «Stimmst du mir auch zu, dass Sokrates laut den Überlieferungen vor allem Leute ausgefragt hat und keine eigenen Theorien verbreitet hat?»

Starbuck: «Ja, das ist so.»

Ismael: «Dann stimmst du mir also auch zu, dass uns von Sokrates keine eigene Meinung bekannt ist?»

Starbuck: «Ja, jetzt wo du es sagst.»

Ismael: «Und stimmst du mir zu, dass die Dialoge, die zum Beispiel Platon aufgezeichnet hat, keine Protokolle der Gespräche sind, sondern einen fiktiven Charakter haben?»

Starbucks: «Ja, schon.»

Ismael: «Dann stimmst du mir sicher auch zu, dass Platon ihm wahrscheinlich Worte in den Mund gelegt hat, die er vielleicht nie genau so gesagt hat?»

Starbuck: «Ja, vermutlich schon.»

Ismael: «Dann musst du auch zustimmen, dass Platon Sokrates quasi als Darsteller benutzt hat, um in seinem Namen seine Theorien darzulegen, oder?»

Starbuck: «Ja, das war wohl so.»

Ismael: «Also musst du mir zustimmen, dass wir nicht wirklich verlässlich und fundiert sagen können, was Sokrates überhaupt gesagt hat, oder?»

Starbuck: «Ja!»

Ismael: «Dann stimmst du mir also insgesamt zu, dass du einen als den grössten Philosophen aller Zeiten verehrst, von dem du nicht wirklich weisst, was er für eine Meinung hatte und was er gesagt hat?»

Starbuck leert seinen Rum in einem Zug, knallt den Becher auf den Tisch und stapft wortlos an Deck.

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