Das zerfurchte Gesicht des Theodulgletschers (kleines Matterhorn)
Fotografie: ismael@raumundzeit.blog
Manchmal im Leben tut sich ein Riss auf. Erst ganz subtil. Man spürt, dass etwas nicht mehr stimmt. Und er tut sich immer mehr auf, langsam, bis man an einem Punkt ist, an dem man mit einer Situation nicht mehr zufrieden ist und eigentlich gar nicht richtig weiss, wieso, obwohl der Riss vor einem klafft.
In der Philosophie spricht man von Entfremdung. Und zwar nicht im Sinne von der Entfremdung zu anderen Personen, sondern von der Entfremdung zu sich selbst. Laut Seneca ist dann die Seele nicht mehr unverfälscht und hat irgendwo einen Riss (115. Brief an Lucius). Ich mache hier zwei Arten der Entfremdung aus.
Die erste ist die organische Entfremdung – die natürlich gewachsene und unabsichtliche Entfremdung. Sie zeigt sich, wenn wir uns plötzlich in einer Situation befinden, die nicht mehr synchron mit unserem innersten Wesen ist. Die auch nicht wirklich so geplant war. Das macht unzufrieden. Wir spielen eine Rolle und sind nicht mehr wir selbst. Es stimmt einfach irgendwie nicht mehr. Das kann bei einer Freundschaft oder einer Partnerschaft sein, bei der man sich auseinanderlebt. Aber auch bei einer Arbeitsstelle oder einem Hobby. Halt bei allen Tätigkeiten und sozialen Kontakten, die viel Zeit in unserem Leben einnehmen. Grundsätzlich verständlich: Man entwickelt sich ja immer weiter. Und natürlich auch unser Umfeld. Das sollte zumindest so sein. Es gibt ja kein schlimmeres Kompliment, als wenn jemand bei einer Klassenzusammenkunft sagt: «Du bist immer noch der Gleiche wie früher.» Ausser das Kompliment bezieht sich rein auf die Figur, dann kann man es ja noch als Kompliment stehen lassen. Wenn sich aber unser Umfeld nicht in die gleiche Richtung bewegt, ist ein Riss vorprogrammiert. Das ist einfach so: Das Leben ist nichts Statisches – es fliesst. Glücklich sind diejenigen, die Menschen an ihrer Seite haben, die sie durch ihr ganzes Leben begleiten, ohne dass sie eine Maske aufsetzen müssen.
So ist es doch kein sorgenfreies Leben, wenn man immer eine Maske trägt.
Seneca, Von der Gemütsruhe
Auf der anderen Seite steht die künstliche Entfremdung. Die, welche von uns selbst provoziert wird. Wenn wir zum Beispiel etwas darzustellen versuchen, das wir nicht sind. Wenn wir eine Persönlichkeit einzunehmen versuchen, die wir gar nicht repräsentieren können. Oder wenn wir irgendwelchen Trends nachrennen, nur um dazuzugehören. Schopenhauer beschrieb das hart, aber treffend. Es passt heute wie die Faust aufs Auge zu diesem ganzen «Geinfluenze» und dem Hinterherrennen hinter demselbigen:
Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist viel schimpflicher als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit von sich selbst ausgesprochen.
Arthur Schopenhauer, Die Kunst, glücklich zu sein
Eine ganz wesentliche Ursache der Entfremdung ist die Zerstreuung. Kontinuierliche Ablenkung zerstört jegliche Selbstreflexion und entfremdet uns folglich von uns selbst. Wir spüren unsere Bestimmung nicht mehr. Und ein wesentlicher Punkt ist auch, sie unterdrückt die heilsamen Gedanken:
Ablenkung ist ein Geistesfaktor, der, weil er aus einem der drei Gifte (Anm. des Autors: Gier, Hass und Verblendung) entspringt, unfähig ist, den Geist auf ein heilsames Objekt zu richten, und ihn stattdessen auf eine Reihe anderer Objekte richtet.
Geshe Rabten, Der Geist und seine Funktionen
Das hat natürlich heute mit den Handys und den ganzen sozialen Medien und News, die unsere Aufmerksamkeit fesseln, eine ganz neue Dimension erreicht. Bei der Arbeit geht’s dann weiter: Es reicht nicht, dass kontinuierlich Mails in unserem Posteingang landen, nein, es muss schneller gehen. Per Telefon oder per Chat. Da sind wir noch schneller greifbar. Unsere Aufmerksamkeit wird immer mehr gefordert. Und zwar jetzt gleich! Man kann Gedanken nicht mehr zu Ende denken. Das ist pures Gift für den Geist – und in der Folge eben auch für unsere mentale Verfassung.
Wenn das, mit dem man einen Grossteil seiner Lebenszeit verbringt, einfach nicht mehr stimmt, dann muss man die Situation ändern. Oder wenn das nicht geht, Konsequenzen ziehen und eine Veränderung anstreben. Sofern man denn in der glücklichen Lage ist, das zu können. Sonst wird der Riss grösser und damit auch die Unzufriedenheit. Man wird den Körper auf Dauer nicht in eine andere Richtung treiben können, als der Geist strebt, denn das wird auf Dauer gesundheitliche und mentale Konsequenzen nach sich ziehen.
Wo dieser Riss im Leben läuft, ist recht einfach festzustellen. Dazu braucht es keine Therapien oder Ähnliches. Das kann man relativ einfach mit Rückzug. Sei es mit einer Auszeit in einem Kloster oder auf einem Weitwanderweg. Man sollte aber den Grossteil der Zeit auf sich selbst gestellt sein, ohne Handy und ohne äussere Einflüsse. Eben um der Zerstreuung Einhalt zu gebieten.
Der Rückzug ist eine Konfrontation mit der Wirklichkeit, das andere ist eine Flucht vor der Realität.
David Steindl-Rast im Gespräch auf SRF Kultur
Während des Rückzugs merkt man schnell, was im eigenen Leben stimmt und was nicht. Gewisse Sachen kann man in der Ruhe gut loslassen und das ist gut. Das sind die Dinge in unserem Leben, die stimmig mit unserem aktuellen Zustand sind. Andere beschäftigen einen immer wieder und lassen einen nicht in Ruhe. Das sind die Dinge, die im Leben nicht stimmen. Die entfremden uns von uns selbst.
...wer sich nur nach außen wendet, ohne zu sich selbst zurückzukehren, der geht als Gespenst um...
Zhuangzi, Das Buch vom südlichen Blütenland, 19