Das Schweigen

Veröffentlicht am 28. August 2025 um 17:00
Nahaufnahme einer mit Magnesia bestäubten Hand, die sich beim Klettern an einem rauen Fels festhält. Im Hintergrund ist ein Teil eines Klettergurts mit Karabinerhaken sichtbar. Das Bild ist stilistisch in mehrere leicht versetzte Segmente unterteilt.

Kletterer im Fels

Filmausschnitt aus Fokus von Jan Schenk

 

Was ist denn dieser metaphysische Wille eigentlich, von dem die SchopenhauerianerInnen immer reden? So dunkel – so blind. Es ist der Lebenswille, der alles entstehen und erblühen lässt. Und der uns vor sich hertreibt. Ja, er kann dunkel sein. Gnadenlos. Man schaue in die Natur hinaus. So wunderschön sie ist, so grausam ist sie eben auch. Der Stärkere oder der Schlauere gewinnt. Es ist ein Fressen und Gefressenwerden. Das wehrlose Rehkitz, egal wie hübsch und unschuldig, wird gefressen, wenn es von Wölfen oder einem Fuchs im hohen Gras gefunden wird. Oder man nehme den Kuckuck. Ein junger Kuckuck ist der Wille in Reinform. Frisch geschlüpft und noch nicht mal fähig, sich selbst zu ernähren, kaum in der Lage, seine Umwelt richtig wahrzunehmen, kämpft er schon um seinen Platz auf der Welt. Er wirft die anderen Eier und die anderen Küken aus dem Nest. Und die werden von irgend einem anderen Tier gefressen. Punkt.

Wir stehen an der Spitze der Nahrungskette, darum geht uns das Töten in der Natur nicht mehr so nah. Und die Tiere, die wir Menschen töten – in der Regel machen das ja andere für uns –, werden ja schön hergerichtet, so dass man nicht mehr wahrnimmt, was da auf dem Grill brutzelt.

Aber man sieht auch überall die hellen Seiten des Willens. Man betrachte ein Lamm, welches eben noch nicht auf dem Grill gelandet ist. Da geht einem doch das Herz auf, wenn es auf der Wiese herumtollt. Gut, einigen geht das «Herz» eher auf, wenn das Lamm auf dem Grill liegt. Für mich zwar unverständlich, aber genau hier zeigt es sich exemplarisch, dass sich der Wille wieder seinen Weg gebahnt hat. Die Befriedigung des Genusses siegt.

Bei einem Neugeborenen kann man den Willen auch gut beobachten. Wenn es schläft, ist er vorübergehend befriedigt. Und wenn es Hunger hat, macht sich der Wille wieder bemerkbar – und zwar lautstark.

Der Wille ist zu so viel Gutem fähig, aber er kann eben auch destruktiv sein. Weil er eben blind ist. Und er lässt uns selten in Ruhe. Es gibt wenige Situationen, in denen der Wille schweigt.

Schopenhauer hat das hergeleitet: Für ihn war die Kunst das eine Mittel, den Willen zum Schweigen zu bringen. Das sich völlige Versenken in Musik oder bildende Kunst. Das urteilslose Betrachten und Geniessen. Im Prinzip ist das Kontemplation, die heute schon zum Modewort geworden ist – gleich nach der Achtsamkeit.

Andere finden ihre Freiheit vielleicht in handwerklichen Arbeiten. Wer kennt das nicht? Eine Tätigkeit, die einem komplett die Zeit und die Umgebung vergessen lässt. Heute reden wir dann eher vom «Flow». Es fliesst. Es geht einfach, ohne Anstrengung, ohne Ablenkung. Man geht ganz in der Tätigkeit auf. Man spürt keine anderen Bedürfnisse mehr.

Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, den Willen zum Schweigen zu bringen. Möglichkeiten, die Schopenhauer damals nicht wirklich bekannt waren. Viele spüren diese Freiheit beim Sport, wie zum Beispiel beim Laufen oder beim Klettern. Beim Langstreckenlauf kommt man irgendwann an den Punkt, an dem der Kopf leergefegt ist. Man fliegt dahin. Man spürt weder die Füsse noch die Belastung. Der Alltag ist weit weg – hinter einem zurückgelassen. Man ist einfach. Gleich geht es den Kletternden, die in der Wand hängen. Nur der nächste Griff zählt. Sie sind eins mit der Wand. Sie sind im Jetzt.

Genau während dieser Phasen ist man frei vom Willen, der immer Befriedigung sucht und uns sonst immer vor sich hertreibt. Zwei Sachen kommen bei sportlichen Tätigkeiten aber noch ins Spiel: Der persönliche geistige Wille muss stärker sein als der metaphysische Wille. Man muss sich zu Leistungen antreiben, die der metaphysische Wille gar nicht will. Genau hier kommt das Ego zum Tragen, das wiederum den Willen anstachelt. Der nächste Lauf wird noch länger, die nächste Wand noch schwieriger, der nächste Berg noch höher.

Und darum landen wir wieder bei Schopenhauer, der sagt, dass eben Kunst fast das einzige Mittel ist, den Willen zum Schweigen zu bringen, ohne ihn erneut anzustacheln.

Halt! Da wäre doch noch die Meditation – glaube ich zumindest. Aber da muss man vermutlich ein Meister sein.

Und schreiben. Schreiben bringt den Willen auch zum Schweigen. Meinen zumindest. Gut hat's getan.


Der Mensch kann tun, was er will; aber er kann nicht wollen, was er will.

Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens


Der sehenswerte Kurzfilm Fokus von Jan Schenk zeigt gut den persönlichen Willen und im Gegensatz dazu die Freiheit vom metaphysischen Willen: