Das Böse

Veröffentlicht am 6. Dezember 2025 um 12:00
uf dem Bild ist ein junges Mädchen zu sehen,

Marianne Nunes Vaz

Foto: Auschwitz Memorial

 

Selbstsicher und mit einem schelmischen Lächeln schaut das Mädchen in die Kamera. Sein Blick ist ruhig und wissend. Reifer, als man es bei einem siebenjährigen Kind erwarten würde. Das Mädchen mit dem intelligenten Blick hiess Marianne Nunes Vaz. Sie wurde mit sieben Jahren in Auschwitz in der Gaskammer ermordet.

So etwas lässt einen doch fassungslos zurück. Es ist immer wieder unbegreiflich, wie es so weit kommen konnte, dass Menschen andere Menschen systematisch, ja industriell ermordet haben. Was muss in denen vorgegangen sein, die sogar Kinder in den Tod geschickt haben? Was in den Menschen, die dies ausgeführt haben?

Einer, der dem personifizierten Bösen gegenübergesessen ist und es studiert hat, war G.M.Gilbert, ein US-amerikanischer Psychologe und einer der wichtigsten Beobachter bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Er ist zum Schluss gekommen, dass alle Angeklagten eines gemeinsam hatten bzw. es eben nicht hatten. Nämlich Empathie:

I told you once that I was searching for the nature of evil. I think I’ve come close to defining it: a lack of empathy. It’s the one characteristic that connects all the defendants. A genuine incapacity to feel with their fellow man. Evil, I think, is the absence of empathy.”

G. M. Gilbert, Nürnberg Tagebuch 1945-1949

Es haben über Jahrtausende schon viele darauf hingewiesen, dass Empathie das Wichtigste für das Zusammenleben und ein Grundwert der Ethik ist. Jede Religion hat einen Kern, der darauf beruht. Die Nächstenliebe im Christentum, das Mitgefühl im Buddhismus. Rahma, die Barmherzigkeit im Islam. Aber auch viele grosse Köpfe der Philosophie haben erkannt, dass sie die Basis für ein friedliches Zusammenleben ist. Wie zum Beispiel Arthur Schopenhauer mit seiner Mitleidsethik oder David Hume in seiner Gefühlsethik.

Mangelnde Empathie zeigt sich in der Sprache. Das erkennt man, wenn man Reden aus dem Dritten Reich anhört oder in die Nürnberger Prozesse reinhört. Die Sprache wurde damals wie heute verwendet, um Empathie gegenüber gewissen Bevölkerungsgruppen, Zuwanderern oder einfach Andersdenkenden zu unterwandern. Man kann eigentlich jede Rede von Autokraten, Diktatoren oder rechten Parteiführern hernehmen und man erkennt ein Muster. Es geht immer um Stärke und Härte. Auch bei uns verhärtet sich der Umgangston wieder. Langsam aber doch merklich. Da werden aus Flüchtlingen plötzlich Wirtschaftsmigranten und Sozialschmarotzer. Dann ist es ja nicht mehr so schlimm, wenn die im Mittelmeer ersaufen, denn sie sind selber schuld, wenn sie sich auf eine so lebensgefährliche Reise machen. Und Menschen, denen es nicht egal ist, wenn Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, werden plötzlich abschätzig als Gutmenschen bezeichnet. Sogar die Retter im Mittelmeer werden als Fluchthelfer und Schlepper diffamiert.

Das Böse entsteht aus fehlender Empathie und die Unterwanderung der Empathie beginnt immer mit der Sprache. Das Böse erwacht also aus der Sprache.