Der Spiegel

Veröffentlicht am 21. November 2025 um 12:00
Eine Spiegelung der schönen Berglandschaft  im Lagh da Val Viola

Spiegelung im Lagh da Val Viola

Foto: ismael@raumundzeit.blog

 

Eine Frage, und schon ist man mittendrin in der Diskussion. Und das nur, weil man die Bedienung gefragt hat, ob die Suppe mit Gemüsebrühe oder Rinderbrühe ist, was vielfach, bei den Tagesmenüs, nicht klar ersichtlich ist. Warum landen Menschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, immer wieder in unfruchtbaren, ja unnötigen Diskussionen? Und zwar nicht, weil sie das provozieren, sondern allein durch ihre Anwesenheit. Klar gibt es auch hier die Missionierenden, aber die gibt es überall. Zu denen geht man generell besser auf Abstand, egal um welche Themen es geht. Aber wieso muss man sich rechtfertigen, ob man aus ökologischen oder gesundheitlichen Gründen oder aber wegen der Tierhaltung kein Fleisch isst?

Teilweise rechtfertigt sich das Gegenüber schon. Vor allem mit der Aussage: «Ich esse auch wenig Fleisch». Diese Antwort auf die Erkenntnis, dass ich Vegetarier bin, steht auf meiner Rangliste der Reaktionen ganz oben. Das Problem ist aber, dass dies keine ehrliche Reflexion des eigenen Handelns ist, sondern eine Rechtfertigung vor sich selbst. Also eine reine Relativierung des eigenen Handelns.

Warum reagieren viele Leute auf diese Erkenntnis, dass das Gegenüber vegan oder vegetarisch lebt, sofort mit Rechtfertigung? Einen Begriff dafür hat die Philosophin Mirjam Schaub im Zusammenhang mit der Radikalität geschaffen. Sie erklärt das Phänomen mit dem Begriff «soziale Beschämung». Durch das Vorleben eines Ideals beschämt man seine Mitmenschen – rein durch sein Handeln und seine Präsenz. Man hält ihnen einen Spiegel vor. Diesen Effekt haben übrigens auch Heilige, Geistliche, Asketen, Abstinente oder aber auch Klimaaktivisten, sofern sie selbst nach ihren Überzeugungen handeln. Also alle, die ein Ideal vor Augen haben und es auch leben. Von daher sind wir vegetarisch oder vegan Lebenden also in guter Gesellschaft.

Bei diesen Diskussionen folgt gleich darauf auf Platz 2 der Konter «Die Menschen haben schon immer Fleisch gegessen». Diese Tischnachbarn fühlen sich rein durch die Anwesenheit eines vegan oder vegetarisch Lebenden provoziert. Schon das Totschlagwort «immer» erübrigt eigentlich eine weitere sinnvolle Diskussion. Und wenn sich jemand auf das Handeln von Steinzeitmenschen bezieht, braucht man sowieso nicht weiter zu diskutieren. Schopenhauer hat das treffend erkannt: Man diskutiert nicht mehr mit Argumenten, sondern nur noch gegen den Willen des Gegenübers. Das Gegenüber will Fleisch essen und will sich das durch keine Argumente nehmen lassen.

Was man zum Glück etwas weniger antrifft, ist die Aussage: «Aha, du isst nichts, was dich mal angeschaut hat». Ich glaube, mehr unterschwellige Verachtung und Geringschätzung in einen Satz zu packen, ist kaum möglich. Hier wird ganz bewusst die Person attackiert. Das ist auch der letzte Kunstgriff bei Arthur Schopenhauers eristischer Dialektik, die übrigens heute wieder aktueller ist denn je. Wenn einem alle anderen Kunstgriffe und Argumente ausgehen, beleidige beleidige dein Gegenüber oder werte es ab.

Wenn man merkt, daß der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persönlich, beleidigend, grob. Das Persönlichwerden besteht darin, daß man von dem Gegenstand des Streites (weil man da verlorenes Spiel hat) abgeht auf den Streitenden und seine Person irgend wie angreift.

Arthur Schopenhauer, Die Kunst Recht zu behalten, Letzer Kunstgriff

Schopenhauer hielt aber auch an anderer Stelle fest wie sehr er alle diese Kunstgriffe, von denen er achtundreisseig in seiner Dialektik zusammengestellt hat, verachtet. 

Dergleichen Strategemata also hatte ich ungefähr vierzig zusammengestellt und ausgeführt. Aber die Beleuchtung aller dieser Schlupfwinkel der mit Eigensinn, Eitelkeit und Unredlichkeit verschwisterten Beschränktheit und Unfähigkeit widert mich jetzt an.

Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, §26

Diese drei Reaktionen: die unreflektierte Legitimation des eigenen Handelns, der frontale Angriff mit Totschlag-Argumenten auf die Positionen des Gegenübers und der direkte Angriff auf die Person, durch herabwürdigen und lächerlichmachen. Das sind die giftigen drei Reaktionen, die jeglichen vernünftigen Diskurs im Keim ersticken. Mittlerweile ist man als vegetarisch oder vegan Lebender nicht mehr so exponiert wie noch vor Jahrzehnten. Aber diese drei Reaktionen lassen sich leider bei allen großen Themen, die uns aktuell beschäftigen, beobachten und nicht nur am Esstisch, wo es eigentlich Wurst ist.